Sonny Rollins - Saxophone Colossus

Veröffentlicht am 3. Dezember 2025 um 21:50

Sonny Rollins – Saxophone Colossus

Prestige LP 7079, 06/1956, Engineer: Rudy van Gelder, Producer: Bob Weinstocks

Sonny Rollins – ts; Tommy Flanagan – p; Doug Watkins – b; Max Roach – ds;

 

Side A:

1) St. Thomas

2) You Don’t Know What Love Is

3) Strode Rode

 

Side B:

1) Moritat

2) Blue Seven

 

Saxophone Colossus war meine erste Platte von Rollins und eine meiner ersten Jazz-Platten überhaupt. Ehrlich gesagt hatte ich sie mir wegen des Covers geholt, ich war damals eigentlich eher ein Freund klassischer Hard-Bop-Quintette, und hier ist Rollins der einzige Bläser. Ich sollte meinen Impulskauf nicht bereuen. Saxophone Colossus schien mir damals (und auch heute noch) ein echtes künstlerisches Statement zu sein – und mit dieser Meinung stehe ich nicht allein. Aber: Wie schreibt man darüber? Wie gießt man ein Gefühl, das fast Überwältigung genannt werden kann, in Worte, die ihm gerecht werden?

 

Zur Vorgeschichte: Ab Ende 1955 ging Sonny Rollins so regelmäßig ins Aufnahmestudio, als hinge sein Leben davon ab. Vielleicht tat es das sogar irgendwie. Nach mehreren Anläufen war es ihm 1954 oder 1955 (genau weiß ich es nicht) endlich gelungen, eine schwere Heroinabhängigkeit zu überwinden. Anschließend hatte er sich viele Monate isoliert, gesammelt und an seinem Spiel gefeilt, bis er sich bereit fühlte, wieder in die Öffentlichkeit zu treten. Dann ging es Schlag auf Schlag.

 

Im Dezember 1955 nahm er Work Time auf, im März 1956 Plus 4, im Mai Tenor Madness, bei dem John Coltrane als Gast auf einem Stück mitwirkte. Alle diese Platten bieten soliden Hard Bop in wechselnden Besetzungen und haben ihre Freunde, aber keine war ein wirklich großer Wurf wie das nächste Album: Im Juni 1956 war Rollins schon wieder bei Rudy van Gelder zu Gast und spielte Saxophone Colossus ein, die Platte, die viele für sein Magnum Opus halten. Was macht das Album so besonders?

 

Zum einen ist die Platte kompositorisch (thematisch) wirklich stark, alle Stücke funktionieren auf mehreren Ebenen. Sie bieten genügend melodische Hooks, um oberflächliche und wenig jazz-affine Hörer zu gewinnen, belohnen aber ebenso intensives oder gar analytisches Hören. Dazu gleich mehr. Zum anderen ist es die schiere Qualität der Band und der individuellen Beiträge, auch dazu unten mehr.

 

Was an der Platte vom ersten Takt an auffällt: Man lässt sich Zeit; nichts wirkt gehetzt oder beschleunigt. Der Beginn des Openers St. Thomas ist, wie das Gitarrenintro von Stairway to Heaven, so unverwechselbar, dass man die Platte sofort erkennt: Der erste Schlag kommt von Max Roachs Bassdrum und leitet einen Calypso-Beat ein, der sich über knapp 20 Sekunden entfalten kann. Erst dann setzt die Band ein und Rollins stellt das Thema vor. Danach spielt Rollins fast zwei Minuten lang ein Solo, mit einem Saxofonton so unglaublich kräftig, dass er fast stofflich greifbar scheint, wie aus Stein gemeißelt. Als nächster Solist ist nicht etwas Pianist Flanagan an der Reihe, sondern Max Roach, wirklich einer der großen Schlagzeuger des Bebop, der etwas schafft, was nur wenigen Drummern gelingt: Er zieht den Hörer mit einem Solo in den Bann. Nach dem Drumsolo wechselt die Band in einen schnellen Swing, und nun kommt der elegante, unaufdringliche Tommy Flanagan an die Reihe mit einem geschmeidigen Beitrag im mittleren Register, bevor das Thema zurückkehrt.

 

Auch die Ballade You Don’t Know What Love Is erhält hier eine für mich endgültige Interpretation, vielleicht zeigt sich Rollins’ immense Power nirgendwo deutlicher. Er spielt die Melodie und nimmt den Großteil des Soloraums ein, ergänzt lediglich durch einen kurzen Beitrag Flanagans. Die zweite Rollins-Komposition, das schnelle Strode Rode beschließt Seite 1. Rollins und Flanagan solieren mit der üblichen Kompetenz, aber besonders gefällt mir hier das Drumming von Roach, der ständig mit kleinen Fills und Synkopierungen auf die Beiträge der Solisten reagiert und damit diese Nummer enorm belebt.

 

Auf Seite 2 finden wir zwei lange Stücke, Moritat (besser bekannt als Mack The Knife aus Brechts Dreigroschenoper) und den inzwischen berühmt gewordenen abstrakten Blues Blue Seven. Gunther Schuller, Musiker, Komponist und Schlüsselfigur der Third-Stream-Bewegung (im Grunde ein Versuch, Klassik und Jazz zu verschmelzen) war von Rollins’ Solo auf Blue Seven so beeindruckt, dass er ihm im Magazin The Jazz Review einen viel beachteten analytischen Artikel widmete: Sonny Rollins and the Challenge of Thematic Improvisation. Vereinfacht formuliert beschreibt Schuller die Improvisation von Rollins auf Blue Seven als formal perfekte Exploration eines musikalischen Gedankens (im Gegensatz zu langen Linien durch Akkordwechsel wie man sie zum Beispiel bei Introducing Johnny Griffin findet) und wenn man genau hinhört, dann kann man auch als Laie erkennen, wie Rollins mit einer musikalischen Grundidee spielt, sie immer wieder ausschmückt, vereinfacht und rhythmisch variiert.

 

Schullers Essay ist übrigens auch heute noch frei zugänglich unter dem link https://www.jazzstudiesonline.org/resource/sonny-rollins-and-challenge-thematic-improvisation.

 

Rollins selbst soll die an Deifizierung grenzende Lobeshymne allerdings ein wenig unheimlich gewesen sein. Er hat immer wieder betont, dass für ihn Musik eine spirituelle Dimension hat, die er den Zuhörern vermitteln wollte – und er hat auch beim Solo über Blue Seven sicherlich keine Minute daran gedacht, Anschauungsmaterial für künftige Improvisationskurse zu liefern.

 

Und mal ganz klar: Man muss kein Musikologe sein, um Blue Seven zu begreifen, das geht nämlich auch intuitiv. Als ich Saxophone Colossus das erste Mal hörte, es muss um das Jahr 1987 gewesen sein, kannte ich so gut wie gar keinen Jazz, wusste auch nicht, was eine II-V-I-Verbindung ist, aber Blue Seven mochte ich trotzdem sofort. Formal haben wir es mit einem Blues zu tun, dessen Thema aber so stark reduziert ist, dass er beinahe abstrakt klingt, mehr wie eine Ansammlung spärlich gesetzter Noten. Doch selbst auf das Thema muss man fast eine Minute warten, weil der Anfang des Stückes, wie schon bei St. Thomas, der Rhythmusgruppe gehört. Doug Watkins walkt mit entspannten, aber raumgreifenden Schritten in einen modernen, kühlen Jazz, der mit dem Swing der 1930er und 1940er oder auch dem hitzigen Bebop vielleicht noch den Beat teilte, aber nicht mehr das Gefühl oder die Stimmung. Beim Turnaround steigt Roach ein und begleitet Watkins für einen weiteren Chorus, erst dann greifen Rollins und Flanagan ins Geschehen ein. Der Eindruck, den dieser Einstieg vermittelt ist eine souveräne Abgeklärtheit – ein Leader, der selbstsicher genug ist, auch seinen Mitspielern Raum zur Entfaltung zu geben… um anschließend ein Solo für die Ewigkeit zu spielen.

 

Kurz: Essenzieller Hard Bop!

 

Musik: *****

 

Sound: Mono, aber klanglich quasi perfekt ausbalanciert; jedes Instrument hat seinen Raum. So gut wie die Musik!

 

Verfügbarkeit: Ende 2025 in verschiedenen Ausgaben erhältlich – von günstigen und zum Teil farbenfrohen Ausgaben auf Second, Waxtime, Jazz Images und Universal Music bis zur high-endigen Acoustic Sounds.

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