Willkommen auf meiner Seite für Vinyl
Warum Platten?
Versuch 1:
NJF sitzt vor seiner Anlage. Die ist bereits eingeschaltet und der Plattenteller dreht sich, aber der Jazz Fiend sitzt reglos mit einer Platte in der Hand - da ihr fragt: Bass on Top von Paul Chambers - und ist tief in Gedanken versunken. Die Tür zum Hörraum öffnet sich und eine löwenmähnige Freundin tritt ein: Cassandra, die feministische Gender Warrior Queen.
Salve NJF, was machst du da? Du siehst nachdenklich aus, ungewöhnlich!
Sei gegrüßt, feministische Gender Warrior Queen. Ich denke darüber nach, warum ich gerne Platten höre. Brauch ich für meinen Blog.
Die Queen lacht kurz auf und wedelt mit ihrem Arm, an dem zahlreiche Armbänder baumeln.
Im Ernst? Das kann ich dir sagen… es ist sowas von eindeutig!
Ach ja?
Schau dir den Apparat zur Wiedergabe von Schallplatten an und du hast die Antwort.
Du meinst einen Plattenspieler?
Ein phallozentrisches Produkt wie es im Buche steht.
Wie bitte? Kannst du das näher erklären?
Klar. Der Tonarm – ein horizontales Rohr! – symbolisiert männliche Paarungsbereitschaft. An seinem Ende trägt der Arm eine Nadel, die tief in eine Rille eindringt und dort erregt wird. Zweifellos ein sublimierter Geschlechtsakt.
Der Jazz Fiend hebt die Hand in vorsichtigem Protest.
Du meinst angeregt… das ist nicht dasselbe.
Doch, für Männer schon, bitte komm mir jetzt nicht mit Spitzfindigkeiten. Die Symbolik ist so offensichtlich, dass sie nur einem Mann entgehen kann, weil er sich mit den gängigen Gender-Stereotypen seit Jahrtausenden bestens arrangiert hat.
Machst du dir das nicht zu einfach? Eigentlich will ich doch nur ein bisschen Musik hören und denke an nichts anderes. Vielleicht wollten die Entwickler der modernen Schallplatte keinen Beitrag zum Geschlechterkampf liefern, sondern auch nur Musik hören?
Cassandra wischt den Einwand beiseite.
NJF, wie naiv bist du denn? Ich wette, wir reden hier nicht von Entwicklerinnen! Eine Frau hätte fundamental anders konzipiert, es kommt nämlich noch schlimmer. Die Platte, ohne Frage die weibliche Komponente, ist ein rein passives Element, das nur mit männlicher Hilfe (Tonarm, Nadel) seine eigentliche Bestimmung erfüllen kann, die Musikwiedergabe. Sie ruht auf einem Teller, oder soll ich sagen: auf einem Bett, und wartet in Antizipation des Erlösers.
Sie kramt in ihrer Handtasche, fischt sich eine Gitanes raus, zündet sie an und inhaliert tief. Dann fährt sie fort.
Die Schallplatte steht also für die Rolle der Frau in einer männlichen Welt. Und somit ist jedes Abspielen einer Platte auch eine Aufführung des patriarchalischen Skripts, ein Theater der Geschlechterrollen, wenn du so willst. Was glaubst du, warum mindestens 90 % aller PlattenhörerInnen Männer sind?
Keine Ahnung, mir liegen dazu keine Zahlen vor. Aber selbst wenn - was willst du mir eigentlich sagen?
Das hat viel mit der sich ändernden Rolle des modernen westlichen Mannes zu tun. Ob du es schon gemerkt hast oder nicht - ihr seid gerade dabei, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, daran ändern auch MAGA und die ganze toxische Männlichkeitsbewegung nichts mehr. Euer Einfluss nimmt ab, eure Macht verebbt, zu Hause hört höchstens noch der Hund auf euch. Vor 10.000 Jahren wart ihr Jäger, die mit wilden Tieren rangen, heute leben die meisten von euch in einem Zustand, den ich entmanntes Würstchentum nennen würde. Geduldet, aber nicht länger geliebt oder gar verehrt. Einsame Könige ohne Reich und Untertanen. In dieser Situation bleibt euch nur ein Ausweg: Platten hören.
Damit ich mich ein letztes Mal der Illusion hingeben kann, Kontrolle auszuüben und Dinge beeinflussen zu können? Indem ich zum Beispiel entscheide, welche Platte ich abspiele und wie lange?
Ich sehe, der Groschen fällt langsam. Ja, zusammengefasst kann man sagen: Der Akt des Plattenspielens ist ein letztes männliches Aufbegehren gegen die unausweichliche Obsoleszenz.
NJF erbleicht, als er sieht, wie Cassandra ihre Zigarette auf dem Chassis seines Plattenspielers ausdrückt, sagt aber nichts.
(to be continued...)
Warum Jazz aus den 50ern und 60ern?
Bei meiner ersten Begegnung mit dem Stück Walkin’ auf dem gleichnamigen Album der Miles Davis All Stars brach für mich eine neue Zeit an. Bis dahin hatte ich fast nur Rock und Blues gehört. Die Musik auf Walkin’ war anders: mitreißend und expressiv, und sie brauchte dafür keinen Gesang. Sie klang optimistisch, selbstbewusst und zeitlos modern, obwohl sie, wie ich schnell herausfand, bereits über 30 Jahre alt war. Und dann das Cover: Es sah aus wie Kunst aus dem Museum of Modern Art. Hier warfen sich keine Deppen in Pose; stattdessen sah man eine mittig positionierte US-amerikanische Ampel in Schwarz-Weiß, deren unteres Licht grün leuchtete. Darauf stand in Weiß der Titel Walkin’, und darüber, das Cover horizontal im Goldenen Schnitt teilend, die Namen der Musiker, wiederum in Grün. Oben links schließlich stand schlicht Miles Davis All Stars in nüchternem Schwarz. Die Gestaltung des Plattencovers war wohl so bedeutsam, dass auch der Name des Designers, Tom Hannan, vorne in der unteren linken Ecke zu finden war. Ich war nachhaltig beeindruckt. Nicht nur die Musik, das Gesamtpaket aus Platte und Cover war unfassbar cool.
Dieser Moment liegt inzwischen knapp vierzig Jahre zurück. Walkin’ ist jetzt 71 Jahre alt und das Erstaunliche: es hat sich bis heute nicht abgenutzt. Musik und Cover wirken noch immer modern. Aber Walkin’ war nicht nur für mich eine Epiphanie. Wie ich ebenfalls später lernte, stand es auch im Jazz am Beginn einer neuen Ära. Es gehörte zu den ersten Aufnahmen, die eine neue Strömung definierten, den Hard Bop: eine erdige, blues-und gospelgetränkte Musik mit tanzbarem Groove und eingänglichen Themen, die man spätestens nach zwei Durchgängen im Kopf hatte.
Musikalisch geht es im NJF-Blog oft um Hard Bop, aber nicht nur. Die zehn Jahre zwischen 1955 und 1965 waren vielleicht die künstlerisch reichste Phase, die der Jazz je erlebt hat. Labels wie Blue Note, Prestige, Riverside und Impulse! produzierten Albumklassiker im Wochentakt. Aber wo es eine solche Proliferation von Labeln und Künstlern gab, da muss der kommerzielle und musikalische Evolutionsdruck enorm gewesen sein und der Hard Bop konnte als dominante Form nicht lange überleben. Schon 1959 brach Ornette Coleman auf The Shape of Jazz to Come mit dem Dogma, ab ca. 1960 gab es eine regelrechte kambrische Explosion der Jazz-Stile und die Szene fragmentierte. Hard Bop hatte es in kommerzieller Hinsicht immer schwerer (es war selbst zu besten Zeiten nie wirklich einfach gewesen) und war als prägende Kraft im Jazz erledigt.
Das machte besonders den kleineren Labels zu schaffen. Riverside ging 1964 pleite. Auch Alfred Lion, Gründer und Produzent von Blue Note — dem Label, das den Hard Bop geprägt und wie kein anderes verkörpert hatte — hielt den Druck nicht mehr aus und verkaufte 1965 sein Lebenswerk an den Konzernriesen Liberty Records. Rückblickend muss man sagen: Der Zeitpunkt war gut gewählt. Um wirtschaftlich zu überleben, musste sich der Jazz an den Massenmarkt anpassen, vielleicht sogar anbiedern. So verlor er künstlerisch oft an Substanz, und auch kommerziell reichte es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, am Ende doch nicht — er wurde zu einem Nischenmarkt.
Der Verkauf Blue Notes an Liberty markiert für mich das Ende einer sehr speziellen Epoche im Jazz. Mein Blog ist der Versuch, die Musik dieser Jahre zu würdigen.
Die Idee hinter den Rezensionen
Damit eins gleich klar ist: ich bin nicht der Jazz-Papst und vielleicht steht es mir gar nicht zu, die Musik von gestandenen Profis zu beurteilen. Ich will auch nicht so tun, als hätte ich mehr Ahnung von guter oder schlechter Musik als jeder andere, habe ich nämlich nicht. Aber ich unterhalte mich gerne über Musik, wobei zu einer Unterhaltung mehrere gehören: Ich lade euch hiermit herzlich ein, alles zu kommentieren. Im Grunde ist das der Gedanke hinter dieser Seite – der Wunsch nach dem Dialog mit Gleichgesinnten.
Zur Sternevergabe – die erfolgt rein subjektiv. Ein 5-Sterne-Album mag ein Meisterwerk sein oder nicht - ist mir egal, ich finde es auf jeden Fall sehr gut. Echte Gurken bespreche ich in der Regel nicht. Persönlich verzweifle ich bei einer Platte wie Donald Byrds Street Lady, aber ich will niemanden abhalten, sich mit dem Album zu beschäftigen. Es gibt eine Menge Leute, die auch diese Musik lieben und eher berufen sind zu erklären, warum Street Lady in keiner gut sortierten Sammlung fehlen sollte.
Warum vergebe ich überhaupt Sterne? Ich finde, wer seine Kunst, egal was, kommerzialisiert und von Leuten verlangt, dass sie dafür ihr Geld ausgeben, muss die Frage aushalten, ob sich die Investition lohnt oder nicht. Wie überall gibt es auch im Jazz gute, sehr gute, schlampige oder gar unterirdische Arbeit. Blue Note zum Beispiel erarbeitete sich seinen Nimbus unter den Jazz Labels nicht zuletzt mit echtem Einsatz, Mühe und Sorgfalt - das merkt man den Platten an, zumindest bis zur Mitte der 60er. Aber dazu an anderer Stelle mehr.