Ernie Henry – Presenting Ernie Henry
Riverside RLP 12-222, 08/1956; Engineer: Jack Higgins; Producers: Bill Grauer, Orrin Keepnews
Ernie Henry – as; Kenny Dorham – tp; Wynton Kelly – p; Wilbur Ware – b; Art Taylor – ds
Side A:
1) Gone With The Wind
2) Orient
3) Free Flight
4) Checkmate
Side B:
1) Active Ingredients
2) I Should Care
3) Cleo’s Chant
Der Altsaxofonist Ernie Henry war einer der tragischen Helden, an denen die Geschichte des Jazz wahrlich nicht arm ist. Das erste Mal hörte man ihn im Jahr 1947 als Mitglied der Band von Tadd Dameron, da war er gerade 20. Später spielte er mit Fats Navarro, Max Roach und Dizzy Gillespie. Anfang der 1950er war er bei Illinois Jacquet, dann tauchte er einige Jahre unter. Erst Mitte des Jahrzehntes gab es wieder Lebenszeichen. Er wirkte als Sideman bei Aufnahmen von Charles Mingus und Thelonious Monk mit, bevor er für das Label Riverside im August 1956 mit Presenting Ernie Henry sein Debüt als Leader einspielte.
Ich habe das Gefühl, dass man bei Riverside, anders als Blue Note, mit der ersten Aufnahme eines Musikers nicht zwingend eine sofortige Duftmarke setzen, sondern ihn zunächst einem breiteren Publikum vorstellen wollte. Das bedeutete, dass man in der Regel beim Labeldebüt riskante Experimente mit dem Material vermied, um einen gewissen Breitenappeal zu gewährleisten. Thelonious Monks erste Riverside-Aufnahme war eine Platte mit Ellington-Kompositionen, danach folgte eine Trio-Aufnahme mit eigenem Material. Erst als Monk etabliert war, ließ man mit Brilliant Corners den Hammer fallen.
Auch Presenting Ernie Henry wird Hörer, die einen Erstkontakt zu Henry suchten, kaum verschreckt haben. Für die Aufnahme stellte Riverside Henry eine Riege von Veteranen aus der New Yorker Jazz-Szene an die Seite. Alle hatten reichlich Studio-Erfahrung, man dürfte sich gekannt haben. Aber Presenting… sollte Henry nicht nur als Improvisator vorstellen, sondern auch als Komponisten: Gleich fünf der sieben Stücke stammen von ihm.
Wenn man der Platte einen Grundcharakter attestieren kann, dann eine einladende Zugänglichkeit. Es swingt durchgehend und kommt ohne modernen Firlefanz wie Tempowechsel, seltsame Metren oder avantgardistische Dissonanzen aus. Das heißt aber nicht, dass die Platte gesichtslos oder langweilig wäre. Dafür sind die Stücke zu eingängig und die Dramaturgie der Platte bietet durch ausreichend variierte Tempi genügend Abwechslung.
Seite 1 beginnt mit dem Standard Gone With The Wind in mittlerem Tempo und netten kontrapunktischen Bewegungen der Bläser beim Thema. Henrys Solo nimmt die Melodie auf, um sie dann in weiten Bögen zu umkreisen, lässt sie aber nie komplett hinter sich. Sein Ton suggeriert, dass er bei Parker genau hingehört hat. Er klingt Lou Donaldson, der ja selber ein Adept Parkers war, nicht unähnlich, vielleicht weniger bluesig, und scheint in größeren Intervallsprüngen zu denken. Das zweite Solo kommt von Dorham, der hier zwar nicht schlecht, aber doch etwas untypsich rau klingt. Als letzter darf Drew für ein paar Chorusse ran und liefert einen bluesgetränkten Beitrag, der wiederum keine Lichtjahre entfernt ist von Horace Silver oder Wynton Kelly.
Orient, Free Flight und Checkmate sind Swinger aus der Feder Henrys, die alle ins Ohr gehen, er hatte definitiv ein Händchen für Melodien. Qualitativ sehe ich keine großen Unterschiede, aber das zügig gespielte Free Flight ist ein persönlicher Favorit, weil es zeigt, dass temporeicher Jazz auch richtig freundlich klingen konnte. Außerdem gefällt mir Drews Solo, das selbst bei der hohen Schlagzahl immer präzise bleibt.
Active Ingredients ähnelt vom Charakter her Free Flight – boppig, eingängig, positiv – und zieht das Tempo noch ein bisschen an. Der zweite Standard, I Should Care, schlendert gemächlich, ist aber von der Stimmung fast balladesk. Das kommt hier besonders Dorham zugute, der das längste Solo spielt und seine lyrische Seite ausleben kann. Henrys Moll-Blues Cleo’s Chant stellt am Ende der Platte noch den Bezug zur musikalischen Gegenwart her. Das ist reiner Hard Bop mit Massenappeal: attraktives Thema, keine harmonischen Experimente und bluesige Soli.
Die Liner Notes zu Presenting Ernie Henry lesen sich aus heutiger Perspektive bedrückend. Man war bei Riverside von Henrys außergewöhnlichem Talent wirklich überzeugt und ging davon aus, dass er erst am Anfang einer großen Aufnahmekarriere stand. So schreibt Labelchef Orrin Keepnews, dass Presenting... sicher nicht Enrie Henrys beste Aufnahme bleiben würde, er hielt das Potenzial des Altsaxofonisten für zu groß.
Nachdem man ihm mit Presenting Ernie Henry eine Bühne als Komponist bereitet hatte, legte sein zweites Album für Riverside den Fokus auf Henry als Interpret. Im September 1957 war er der einzige Bläser auf dem Album Seven Standards And A Blues. Was immer man bei Riverside mit Henry noch geplant hatte – es sollte nicht mehr dazu kommen. Am 29. Dezember 1957 starb Ernie Henry im Alter von 31 Jahren an einer Überdosis Heroin.
Fazit: Presenting Ernie Henry gewährt einen seltenen Blick auf ein unvollendetes Talent im Jazz. Von Henrys persönlicher Tragik isoliert betrachtet liefert das Album im positiven Sinne solide Unterhaltung aus einer Zeit, als der Jazz sich zwischen Bebop und Hard Bop bewegte. Kein Pflichtprogramm, aber trotzdem gut, quasi der sonntägliche Tatort des 1950er Jazz.
Musik: ****
Sound: Mono-Aufnahme mit etwas bedecktem Klang. Reicht zwar nicht an die van-Gelder-Aufnahmen für Blue Note oder Prestige heran, ist aber keineswegs schlecht. Bei den Bläsern stimmt das instrumentale Timbre, auch das Piano ist nicht übel. Die etwas unterbelichteten Bass und Schlagzeug haben klanglich am meisten Luft nach oben.
Verfügbarkeit: Ende 2025 tricky. Meine Riverside-Ausgabe (OJC) gibt es gebraucht ab ca.30€. Vor ein paar Jahren hat das spanische Label Jazz Workshop ein paar Perlen aus dem Katalog von Riverside neu aufgelegt, darunter auch Presenting Ernie Henry. Die Platten sind schön gemacht und eine Empfehlung wert, mit etwas Geduld und Glück findet man noch eine.
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