Grachan Moncur III – Evolution
Blue Note ST-84153; 11/1963; Engineer: Rudy van Gelder; Producer: Alfred Lion
Lee Morgan – tp; Grachan Moncur III – tb; Jackie McLean – as; Bobby Hutcherson – vib; Bob Cranshaw – b; Anthony Williams – ds.
Side A:
1) Air Raid
2) Evolution
Side B:
1) The Coaster
2) Monk In Wonderland
In den frühen 60ern stand Blue Note vor einem Dilemma. Um musikalisch relevant zu bleiben und zusätzliche Hörer zu gewinnen, musste man für neue Entwicklungen im Jazz offen sein. Andererseits durfte man seine Markenidentität nicht verlieren, wollte man die Stammhörer nicht verprellen. So kam es, dass man im Labelkatalog von 1963 Sessions etablierter Hard Bopper wie Big John Patton, Freddie Roach und Blue Mitchell einträchtig vereint findet mit Pionieren der Avantgarde wie Andrew Hill und Grachan Moncur.
Der Posaunist Grachan Moncur III war nur auf fünf Blue Note Alben zu hören. Als Sideman spielte er auf Jackie McLeans One Step Beyond (04/63) und Destination … Out (09/63) sowie Bobby Hutchersons Components (06/65). Zweimal ging er als Leader ins Studio: Im November 1963 spielte er Evolution ein, um das es hier geht, im Juli 1964 folgte noch Some Other Stuff.
Bereits das ominöse Intro zu Air Raid zeigt, dass wir es bei Evolution nicht mit einer Session der Jazz Messengers zu tun haben. Unter einem auf- und abschwellenden Vibraphon-Triller klingen zwei lange Bassnoten wie Glocken einer Totenmesse, bevor das leicht klagende Thema vorgestellt wird. Die Soli entfalten sich vor einem Hintergrund, der ständig changiert zwischen ruhigen, beinahe bewegungslosen Momenten und schnelleren, manchmal rasenden, harmonisch freien Passagen, die von Cranshaw und Williams getragen werden.
Interessant ist, wie unterschiedlich die Solisten mit dem Raum umgehen, der sich ihnen hier bietet. McLean und Morgan können noch nicht ganz aus ihrer alten Haut und greifen häufiger auf ihr Hard-Bop-Vokabular zurück, präsentieren sozusagen bewährte Ideen in einer neuen musikalischen Umgebung. Dagegen spielen Moncur und Hutcherson, als seien sie nie in der Bop-Schule gewesen. Ihre Soli leben nicht von Virtuosität, sondern von überraschenden Intervallsprüngen und innerer Spannung durch präzise gesetzte Noten und Pausen.
Evolution, laut Moncur selbst ein Stück über die Entwicklung des Menschen, ist noch etwas düsterer. Das Thema, wenn man überhaupt davon sprechen kann, besteht aus einer leicht dissonanten Abfolge langer Töne von majestätischer Schwere. Es zieht sich durchs ganze Stück und bereitet den Hintergrund für die Solisten, ist dabei aber einer beständigen, subtilen Veränderung (Evolution?) unterworfen: Wird McLean zu Beginn von der gesamten Band begleitet, sind es bei Hutchersons Solo am Ende nur noch Cranshaws gestrichener Kontrabass und lose gesetzte Schlagzeugakzente von Williams. Wie schon bei Air Raid, entfernen sich auch hier Moncur, Hutcherson sowie der rhythmisch kaum fassbare Williams am weitesten vom Hard Bop.
Im Vegleich zu Seite 1 ist The Coaster beinahe konventionell – zumindest in seiner Struktur: Thema – Soli – Thema, harmonisch bleibt es dagegen offen. Moncur stellt das Thema als einziger Bläser vor und übernimmt das erste Solo. Es folgen McLean, Morgan, Hutcherson und noch einmal kurz Moncur. Das Stück hat als einziges hier so etwas wie einen durchgehenden Swing, lediglich in der leicht „spanisch“ angehauchten Bridge (auf der Morgan während seines Solos stellenweise klingt wie Miles Davis auf Sketches of Spain) wird er kurz angehalten.
Monk in Wonderland setzt schließlich einen angemessen schrägen Schlusspunkt. Anfangs wirkt es mit seiner irr hüpfenden Melodie wie ein Kinderlied aus dem Arkham Asylum; in der Bridge klingt es dann kurz nach amerikanischem Gangsterfilm. Und – weil man zwar nicht muss, aber kann – während des Stücks wechselt das Metrum beständig zwischen 3/4- und 4/4-Takt. Bei den Soli, wie schon auf Seite 1, schlagen sich Morgan und McLean wacker; Moncur und Hutcherson hingegen wirken völlig in ihrem Element.
Dass jemand wie Alfred Lion, dem man den Satz It must schwing! zuschrieb (bestätigt von Horace Silver und Art Blakey, die es ja wirklich wissen müssen), eine Platte wie Evolution überhaupt aufnahm, zeigt, welche Reise auch das Label seit den ersten Aufnahmen mit Meade Lux Lewis hinter sich hatte. Hier schwingt es, wenn überhaupt, nur vorübergehend.
Doch Swing ist nicht das Anliegen der Platte. Dafür hat sie sich zu weit von Hard Bop und Soul Jazz entfernt, die hier nur noch vereinzelt als schwache Echos auftauchen. Im Club oder auf einer Party wäre diese sperrige, komplexe Musik völlig fehl am Platz. Sie lädt zu konzentriertem Hören ein – die dafür nötige Investition von Zeit wird allerdings reich belohnt. Kaum zu glauben, dass diese heute noch modern klingende Musik über 60 Jahre alt ist.
Musik: ***** - ein Meilenstein!
Sound: RvG, also gut. Schön sortiert klingende Aufnahme, Stereobild etwas Ping-Pong.
Verfügbarkeit auf Vinyl: Im Herbst 2025 gut, ist Teil von Blue Notes Classic Vinyl Edition.
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